Erlebnis und Emotionen

E-Commerce boomt, das Ladengeschäft liegt am Boden. Das liegt nicht nur an Corona. Der stationäre Handel muss sich etwas einfallen lassen.
Illustration: Mario Parra
Illustration: Mario Parra
Mirko Heinemann Redaktion

Zehn“, jubelt die Nachbarin, als sie bei uns klingelt, um ein Paket abzuholen. Sie stößt ein triumphierendes „Haha“ aus. Zehn Auslieferungsfahrer hätten heute bei ihr geklingelt. Sie erzählt leutselig: „Vor der Corona-Pandemie hatte ich das Gefühl, ich werde mit Paketen von Versandhändlern überflutet. Jetzt weiß ich: Das war noch gar nichts im Verhältnis zu jetzt.“

 

 

Dieses Gefühl kennen viele: Seit einem Jahr und monatelangem Lockdown sind kaum mehr Passantinnen und Passanten zu sehen, stattdessen brummen Lieferwagen die Straßen auf und ab, auf Fahrrädern eilen Boten von Lieferando und Wolt durch die Stadt, vor den DHL-Filialen bilden sich Schlangen mit Paketen, die als Retouren an die Händler:innen zurückgehen. Der Eindruck: In der Pandemie, während Geschäfte geschlossen bleiben mussten, verlagerte sich der Handel mit Waren komplett in das Internet.

 

Der Eindruck täuscht nicht. Die Entwicklung der Zahlen spricht Bände: In Deutschland lagen die Online-Umsätze mit Waren für 2020 bei 83,3 Mrd. Euro. Damit stiegen sie gegenüber dem Vorjahr um 14,6 Prozent an. In den stark von der Pandemie geprägten Monaten Januar bis März 2021 betrug das Wachstum der E-Commerce-Branche sogar 28 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Ein Umsatz von mehr als 21 Milliarden Euro wurde erzielt.

 

Noch krasser ins Auge fällt die wachsende Bedeutung der Online-Händler, wenn man die deutschsprachigen Märkte zusammennimmt:  In Deutschland, Österreich und der Schweiz erreichten sie im Jahr 2020 einen Umsatz von mehr als 100 Milliarden Euro. Zusammen bringen es die deutschsprachigen Märkte damit auf ein Viertel des E-Commerce-Warenumsatzes in den USA. Pro Kopf wurde in den drei Ländern im Mittel etwa für 1.000 Euro im Jahr bestellt.

 

Sind Ladengeschäfte und Shopping Malls damit endgültig aus der Zeit gefallen? Natürlich nicht, beruhigt Roman Becker vom Marktforschungs- und Beratungsunternehmen 2HMFORUM:
„Die Haptik und die Atmosphäre spielen eine große Rolle. Shoppen gehen ist ein Erlebnis für viele, aber insbesondere schätzen die verbliebenen Anhänger des stationären Handels den Kontakt zu den Mitarbeitern, sie wollen beraten und betreut werden und sind bereit, dafür sowohl die Anreise als auch höhere Preise in Kauf zu nehmen.“

 

Dass der stationäre Handel in einer prekären Situation ist, schreibt er nicht allein Corona zu. Becker hält sie zumindest zum Teil für selbstverschuldet. Statt in die Offensive zu gehen und seine Alleinstellungsmerkmale herauszustellen, habe der stationäre Handel „in einer Abwärtsspirale durch den zunehmenden Kostendruck bei ausbleibenden Umsätzen zunehmend genau an den Punkten gespart, die für Kundinnen und Kunden den Besuch überhaupt noch lohnenswert machen“.
Das wäre zum einen bei der Ausstattung, zum anderen aber insbesondere bei den Mitarbeitern. Gehälter seien gekürzt und die Personaldecke
immer weiter ausgedünnt worden. Wenn man doch einen freien Kundenberater finde, wirke dieser oft demotiviert. „Man fragt sich dann, ob sich der Aufwand und die Mehrkosten im Vergleich zum Einkaufen im Internet wirklich noch lohnen.“

 

Diese Kritik am stationären Handel war bereits vor der Pandemie virulent – und wurde mit einem Gegentrend aufgefangen, der global zu beobachten war. Er heißt: „Experience“, also Erlebnis. In einer zunehmend unübersichtlichen Markenwelt mit immer mehr Produkten sehnen sich die Kund:innen nach Identifikationsfaktoren. Das Lebensnotwendige wird schnell „besorgt“, aber Shopping soll mehr sein: Es geht nicht allein um das Produkt, mindestens genauso wichtig sind das Erlebnis und die Emotionen rund um den Einkauf. Sobald Corona abebbt, könnte dieser Gegentrend wieder zum Zuge kommen.

 

Ein Beispiel für modernes Erlebnisshopping bietet der Outdoor-Ausstatter Globetrotter. In seiner Münchner Filiale gibt es ein Wasserbecken mit Gegenstromanlage, das als Kanu-Teststrecke fungiert. Dazu eine gläserne Kletterwand, einer Regenkammer, in der die angebotenen Jacken auf ihre Unwettertauglichkeit geprüft werden können, sogar eine Höhen-Kältekammer, in der man seine Bergtauglichkeit testen kann. Viele Kundenberater sind selbst passionierte Abenteurer und geben eigene Erfahrungen weiter.

 

Daran können sich andere Händler ein Beispiel nehmen. Die Gretchenfrage lautet: „Schafft das Team es, vor Ort für den Kunden ein bleibendes Kundenerlebnis zu schaffen?“, so Roman Becker. „Und zwar so, dass der Kunde nicht nur selbst häufig wiederkommt, sondern das Geschäft weiterempfiehlt. Denn Fans sind die besten Kunden. Sie kaufen mehr, sie kaufen häufiger, sie sind weniger preissensibel und sie empfehlen weiter.“ Das sei die beste Werbung für jedes Unternehmen.

 

Bis dahin lautet eine Hilfestellung für den stationären Handel: Multi-Channel. Das bedeutet nichts anderes, als dass der Vertrieb nicht allein über das Laden-geschäft erfolgt, sondern zusätzlich über mindestens einen weiteren Kanal: das Internet. Das machen erfolgreich nicht nur große Retailer wie Saturn, Media Markt, Karstadt/Kaufhof, Rewe und Lidl vor, sondern zunehmend auch kleinere Händler:innen. Der Berliner Spielzeughändler „Die kleine Gesellschaft“ hat einen Online-Shop entwickelt, die Weinkette Vinos war zuerst mit Filialgeschäften vertreten, bevor sie im Internet erfolgreich wurde. Andere gingen diesen Weg sogar umgekehrt: Der Fantasyshop Elbenland ist als Online-Händler gestartet und hat erst später Filialgeschäfte eröffnet, um seinen Kunden ein haptisches Erlebnis zu bieten.

 

Amazon, Mercateo, Otto.de oder Zalando müssen da nicht zwangsläufig als Konkurrenz verstanden werden. Beim Aufbau einer Internetpräsenz könnten die Marktplätze der großen Händler den kleinen Unternehmen sogar den Einstieg in den Online-Handel erleichtern, erklärt Gero Furchheim, Präsident des Bundesverbandes E-Commerce und Versandhandel: „E-Commerce fördert die Vielfalt, denn kleine Unternehmen können mit nur geringen Eintrittshürden in den Online-Handel starten. Digital werden zusätzliche Kunden unabhängig vom Standort angesprochen, bedient und gebunden.“

 

Stationäre Händler:innen, die die Zeit des Lockdowns genutzt haben, um eine nachhaltige Multi-Channel-Strategie zu entwickeln, könnten damit einen Vorteil erringen. Sobald die Geschäfte wieder öffnen, hätten die Kunden die Wahl zwischen mehreren Vertriebskanälen: zwischen dem Online-Shop und dem Erlebnis im klassischen Geschäft. Eine Aufholjagd könnte folgen, mit einem neu belebten Wettbewerb um die besten Shopping-Konzepte – zum Vorteil für die Kundinnen und Kunden.

 

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