Arbeit ohne Chefs

Immer mehr Unternehmen probieren es aus: Sie schaffen Führungspositionen und Titel ab.
Illustration: Jasmin Mietaschk
Illustration: Jasmin Mietaschk
Sarah Kröger Redaktion

Die Kommunikationsberatung Wigwam hat sich von einer GmbH in eine Genossenschaft verwandelt, in der alle Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und jede Person ihr Wunschgehalt erhält. Auch beim Start-up Einhorn gibt es weder Chefs noch feste Arbeitszeiten, stattdessen aber unbegrenzten Urlaub. Geht das gut?

„Head of Orgasmic Marketing & PR“ steht auf dem LinkedIn-Profil von Markus Wörner. „Der Titel klingt lustig, ist aber nicht viel wert: Den habe ich mir selber ausgedacht“, sagt er und lacht. Im Start-up Einhorn, für das er arbeitet, gibt es keine festgeschriebenen Rollen. Also dürfen sich die Mitarbeitenden einfach einen Titel ausdenken. Der heißt dann zum Beispiel „Head of Menstruation“ oder „Head of Fairstainability“.


Das vor sechs Jahren gegründete Unternehmen verkauft nachhaltig hergestellte Kondome und Menstruationsartikel und möchte sich nicht nur mit seinen Produkten für das Gute einsetzen, sondern auch seinen Mitarbeitenden auf Augenhöhe begegnen. Markus Wörner war früher in mittelständischen Unternehmen im Marketing tätig. „Dort gab es die klassischen Strukturen mit Vorstand und Aufsichtsrat. Oft entschied dann das Organigramm darüber, was am Schluss gemacht wurde und nicht die Person, die am meisten Ahnung hatte“, erzählt er. Deswegen suchte er nach einem Job, der mit seinen Werten mehr im Einklang stand.


Als der Marketing-Experte zu Einhorn kam, war das Unternehmen ein Jahr alt und noch in der Findungsphase, was New Work und Selbstbestimmung betraf. Kurze Zeit später wurde bei einem Treffen beschlossen, die Gehälter transparent zu machen und die offiziellen Arbeitszeiten abzuschaffen. Auch Urlaubstage gab es ab sofort so viele, wie alle wollten. Heute gibt es bei ihnen keine formalen Hierarchien mehr. Die beiden Geschäftsführer haben sogar ein Dokument unterschrieben, in dem steht, dass niemand im Unternehmen weisungsgebunden ist. Wirklich grundlegende Entscheidungen, die die Zukunft der Firma betreffen, werden bei Einhorn basisdemokratisch getroffen. Drei bis vier Personen, zum Beispiel aus dem Gehaltsrat oder dem Human-Resources-Rat, arbeiten einen Vorschlag aus, über den dann alle Mitarbeitenden abstimmen.

Keine Organisation ohne Hierarchien

Nadine Nobile, Geschäftsführerin des Unternehmens CO:X glaubt dagegen nicht an Hierarchielosigkeit. Sie berät regelmäßig Organisationen zu den Themen Führung und partizipativ gestaltete Vergütungsmodelle und meint: „In einem Sozialgebilde bilden sich immer auch vertikale Strukturen ab. Es gibt dann vielleicht keine formale Hierarchie, dafür aber eine informelle.“ Junge Mitarbeitende, die neu ins Team kommen, würden sich beispielsweise an Menschen orientieren, die schon länger dabei sind und Erfahrung mitbringen. Wichtig sei, erklärt Nadine Nobile, dass selbstorganisierte Unternehmen auch über ihre impliziten Strukturen reden: „Sind die informellen Hierarchien, die wir erkannt haben, hilfreich? Bringen sie die Gruppe voran?“


Bei Einhorn werden Entscheidungen primär kompetenzbasiert getroffen, erklärt Markus Wörner. „Es ist nicht so, dass wir Führung komplett abgeschafft haben, aber bei uns ist Führung sehr agil. Mal führt eine Person ein Projekt, dann wieder eine andere.“ Doch schon allein aus rechtlichen Gründen stößt die Hierarchiefreiheit bei Einhorn irgendwann an ihre Grenzen. Als GmbH müssen sie einen Geschäftsführer vorweisen, der bei Verletzung seiner Aufsichtspflicht auch persönlich haftet. Diese Funktion übernehmen weiterhin die Gründer Waldemar Zeiler und Philip Siefer und nennen sich bei LinkedIn dementsprechend auch Chief Executive. Ihr Gehalt liegt am oberen Ende der bei Einhorn festgelegten Gehaltsobergrenze.

Von der GmbH zur Genossenschaft

Die Kommunikationsberatung Wigwam hat ihre Geschäftsführung ganz abgeschafft. 2009 wurde das Unternehmen als GmbH gegründet, damals noch mit Geschäftsführern. „Das hatte ganz praktische Gründe“, erzählt Eugen Friesen, der für Wigwam seit sieben Jahren als „Kommunikations-Tausendsassa“ strategisch berät und textet. „Wigwam startete damals mit drei Leuten und es brauchte irgendeinen Rahmen.“ Als die Agentur wuchs, nahm auch das Bedürfnis nach Selbstorganisation zu. Schon damals existierte kein großes Machtgefälle zwischen den Geschäftsführern und den Angestellten, sagt Eugen Friesen. „Trotzdem gab es aufgrund der rechtlichen Konstruktion ein Spannungsfeld. Wenn 15 Leute mitentscheiden und am Ende nur drei Personen in der Geschäftsführung verantwortlich sind, dann sind nicht alle gleich.“


Irgendwann wollten zwei Geschäftsführende aussteigen, der dritte war kurz vor der Elternzeit. Es entstand ein Vakuum, das neu gefüllt werden musste. Die Mitarbeitenden setzten sich zusammen und waren sich schnell einig, dass sie nicht einfach nachbesetzen wollten. So gründeten sie 2016 eine Genossenschaft, kauften die GmbH auf und wählten einen sechsköpfigen Vorstand. Eugen Friesen, der im ersten Jahr auch Vorstandsmitglied war, kann sich noch gut daran erinnern: „Es war nicht leicht, plötzlich Verantwortung übernehmen zu müssen. Das hat sich irgendwie schräg und neu angefühlt“, sagt er und lacht. Geholfen hätte die Tatsache, dass sie ein mehrköpfiges Team waren und die Haftung bei Wigwam vom Vorstand entkoppelt ist.


Um die finanzielle Verantwortung auf allen Schultern zu verteilen, haben die mittlerweile 24 aktiven Genossinnen und Genossen untereinander Binnenverträge. Die Haftungssumme wird durch die Anzahl der Mitglieder geteilt. „Das macht die Gleichberechtigung aus unserer Sicht erst komplett“, findet Eugen Friesen. Grundlegende Entscheidungen werden in der Generalversammlung oder bei Strategietagen demokratisch entschieden. Für bestimmte Themen, wie Finanzen oder Personal, gibt es Kreise, in denen sich jeder engagieren kann und möglichst auch sollte. Zusätzlich dazu existieren auch formale Strukturen, wie der Vorstand und der Aufsichtsrat, die alle zwei Jahre gewählt werden. Das findet Amelie Salameh, die vor drei Jahren als technische Projektmanagerin zur Agentur stieß, nicht weiter schlimm: „Das bedeutet ja nur, dass mehrere Personen zeitweise Verantwortung übernehmen. Es gibt bei uns eine Hierarchie – aber die ist auf mehreren Schultern verteilt und selbst gewählt.“

Selbstbestimmtes Gehalt

Wenn New Work und Selbstorganisation konsequent zu Ende gedacht werden, kommt auch schnell das Thema Gehalt ins Spiel, sagt Nadine Nobile: „In vielen Unternehmen gibt es immer mehr agile Teams, die Entscheidungen selbst treffen. Macht es dann wirklich noch Sinn, dass eine Führungskraft über Gehälter entscheidet? Zumal sie von der täglichen Arbeit kaum noch etwas mitbekommt.“


Wigwam hat vor fünf Jahren das Wunschgehalt eingeführt, bei dem jedes Mitglied angibt, was es gerne verdienen möchte. Liegt die Gesamtsumme aller Wünsche über dem, was erwirtschaftet wird, wird ein anteiliges Wunschgehalt ausgezahlt. Anfangs konnten sie sich nur 80 Prozent des Wunschgehalts auszahlen, mittlerweile sind es 94 Prozent. „Unser Modell funktioniert, weil wir sehr wohlwollend miteinander sind und unsere Wertevorstellungen ähnlich sind. Bisher hat sich noch niemand 8.000 Euro im Monat gewünscht“, erklärt Eugen Friesen.


Einhorn arbeitete anfangs auch mit einem Wunschgehalt, dann merkten sie aber, dass sich einige schwer damit taten, ihre Gehaltswünsche so offen vor der Gruppe zu formulieren. Aktuell setzt sich das Gehalt deswegen aus verschiedenen Bausteinen, wie Berufserfahrung, Verantwortung oder Lebenssituation, zusammen. Wer etwa Kinder hat, bekommt 700 Euro brutto zusätzlich ausgezahlt. Der Betrag, der dabei herauskommt, wird dem Mitarbeitenden vorgeschlagen und kann von ihm angepasst werden, in einer Spanne von mehreren hundert Euro. Mit dieser Mischung aus System und Selbstbestimmung sind sie gerade ganz zufrieden. „Unser Gehaltsmodell entwickelt sich aber konstant weiter“, sagt Markus Wörner. Bisher hätten sie das System jedes Jahr neu angepasst.

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